Bach, Ingrid / Hansen, Volker: Schülerinnen und Schüler verschiedener Länder untersuchen ihren Lebensraum. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung: Telekommunikation in der Schule, 1. Auflage 1996, S. 23-28.
Im Dezember 1992 war in einem Nachrichtenbrett des Education Forum beim Online-Dienst CompuServe (siehe Seite 99 ff.) eine Einladung zum sogenannten BIOME-Projekt zu finden, ein fächerübergreifendes naturwissenschaftliches Unterrichtsvorhaben, das länderübergreifend mit Unterstützung von Telekommunikation abgewickelt werden sollte. Danach sollten Schulen entsprechend ihren eigenen Interessen, Möglichkeiten und Ressourcen naturwissenschaftliche Untersuchungen in ihrem eigenen Lebensraum durchführen und die hierbei ermittelten Ergebnisse wöchentlich an den Initiator des Projektes (Kirk Beckendorf, Fredericksburg, Texas) weiterleiten.
Kirk Beckendorf koordinierte das Projekt. Die während der Woche einlaufenden Nachrichten wurden von ihm gesammelt, zusammengefaßt und anschließend an alle beteiligten Schulen via E-Mail verschickt. Dadurch wurde die Möglichkeit eröffnet, neben den eigenen Untersuchungsergebnissen auch fremde Beiträge in den laufenden Unterricht zu integrieren. Als Verständigungssprache kam nur Englisch in Betracht. Beteiligt waren Schulen aus folgenden Städten: Big Wells, Texas; Braintree, Massachusetts; Bronte, Texas; Conroe, Texas; Düsseldorf; Elkhorn, Nebraska; Fredericksburg, Texas; Kirtland, Ohio und Seattle, Washington. Als Fächer für fachübergreifendes Arbeiten waren vorrangig Biologie, Chemie, Geologie, Fossilienkunde und Geographie vorgesehen.
Bezüglich des Alters der Schülerinnen und Schüler sowie der Schulform existierten bei diesem Projekt keinerlei Einschränkungen, so daß Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 17 Jahren der verschiedensten Schulformen gemeinsam an diesem Projekt arbeiteten.
An der Gesamtschule Kikweg in Düsseldorf wurden drei Projektgruppen gebildet. Eine Lehrerin unterrichtete ihre Schülerinnen und Schüler im Klassenverband der 8. Jahrgangsstufe im Fach Biologie, einige der Jugendlichen im Wahlpflichtbereich Naturwissenschaften Biologie/Chemie sowie einige im Fach Englisch. Für einen kürzeren Zeitraum arbeitete eine weitere Lehrkraft mit einer Lerngruppe des gleichen Jahrganges in den Bereichen Physik, Geographie und Englisch mit. Diese Gruppe trug Daten der heimischen Wetterübertragung zusammen, übersetzte diese ins Englische und stellte sie für das Biome-Projekt zur Verfügung. Eine dritte Lerngruppe steuerte im Rahmen der Fächer Biologie und Englisch Untersuchungen zum heimischen Vogelflug bei, übersetzte diese ebenfalls und ließ sie in das Projekt einfließen.
Während die beiden letztgenannten Gruppen je ein im schulinternen Lehrplan vorgegebenes Unterrichtsthema in das Biome-Projekt integrierten, wobei der Unterricht aber im wesentlichen wie gewohnt weiterlief, entschied sich die erstgenannte Lehrerin für eine vollständige Ausrichtung ihres Fachunterrichts auf das Projekt.
Durchführung des Projektes
Zunächst erfolgte eine erste Kontaktaufnahme per Electronic Mail mit allen zu diesem Zeitpunkt bekannten Projektleiterinnen und Projektleitern der teilnehmenden Schulen. In dieser Phase des gegenseitigen Kennenlernens stellten sich die verschiedenen Lehrerinnen und Lehrer kurz vor. Manche gaben bereits globale Daten ihres Lebensraums an und beschrieben ihre methodische Vorgehensweise. Die meisten Schulen bevorzugten einen forschend-entwickelnden Unterrichtsansatz, bei dem die Schülerinnen und Schüler Probleme erkennen, formulieren und möglichst eigenständig lösen sollten. Alle Teilnehmer erhielten die folgende „offene“ Themenliste aus Fredericksburg:
#: 88348 S11/SchoolNET/Online Ed
13-Dec-92 06:25:45
Sb: Biomes Project
Group 1- Your location – latitude and longitude. General location of biome in the world. Elevation. Climate – I will be having a group making weather measurements all year.
Group 2- Plants – names, pictures, specimens, endangered species, adaptations to the area, etc …
Group 3- Animals – names, pictures, specimens, endangered species, adaptations to the area, etc …
Group 4- Generallandscape – pictures human uses and impacts soil types-descriptions, effects on plants, samples
Group 5- Water – samples and analyses. Fossils – samples (names), age and their habitat, how the area has changed. Rocks – samples, types (sedimentary, igneous, or metam.)
Dieser Themenkatalog stellte keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, und keine Schule sollte sich verpflichtet fühlen, alle Themenbereiche im Projektverlauf zu bearbeiten. Vielmehr sollte jede Gruppe eigene Akzente setzen, um ein typisches Profil des eigenen Lebensraums zu erstellen.
Sehr reizvoll für die Schülerinnen und Schüler war der Gedanke, daß die im Verlauf des Vormittags übermittelten Daten noch vor Schulbeginn der amerikanischen Schülerinnen und Schüler dort eingetroffen waren und dann schon am nächsten Tag ausgewertet werden konnten.
Nachdem gemeinsam der Begriff BIOME näher erläutert und definiert worden war, erfolgte der weitere Einstieg in das Projektthema durch den Einsatz vielfältiger Medien: entsprechende Diaserien, Videofilme und vorbereitete Bücherkisten. Es ergaben sich angeregte Diskussionen, ein eifriges Stöbern in den Büchern und Broschüren und ein erstes Gruppieren der Schülerinnen und Schüler.
Bei der endgültigen Themenauswahl bezüglich des Lebensraums .Düsseldort und seine nähere Umgebung“ erfolgte eine Schwerpunktsetzung durch die Schülerinnen und Schüler:
- Ökosystem Wald: Pflanzen hiesiger Wälder (typische Bäume, Sträucher, Kräuter, Blumen, Farne, Moose); Fauna (typische Waldbewohner); Monokultur/Mischwald; saurer Regen und seine Folgen für die hiesige Flora und Fauna; Überwinterung von Säugetieren, Reptilien, Insekten und Amphibien; Vogelzug in Winterquartiere
- Analyse verschiedener Bodenproben: Böden des Eller Forsts (Düsseldorf), Acker- und Gartenböden, Böden in der Nähe einer vielbefahrenen Autostraße; Zusammensetzung und Nährstoffgehalt; pH-Wert; Ionennachweise; Umweltgifte (Blei, Cadmium, Quecksilberionen); Mikroorganismen
- Analyse von Gewässerproben: Unterbacher See (Düsseldorf), Teich im Gelände der Bundesgartenschau (Düsseldorf), Regenwasser, Düsseldorfer Trinkwasser; pH-Wert; Ionennachweise; Mikroorganismen/Pflanzen der Uferzonen.
Wie sich aus den Projektaufgaben erkennen läßt, waren die folgenden Forschungs- und Erarbeitungsphasen sehr vielfältig und stellten z. T. hohe Anforderungen an die Lerngruppen:
- Beschaffung von Untersuchungsmaterial (pflanzliche Substanz, Samen, Blätter, Knollen, Rinde, mehrfache Boden- und Gewässerproben)
- Planung von Experimenten, Durchführung und Auswertung in Form von Protokollen
- Literaturrecherche
- Anfertigung von Fotos, Diagrammen, Collagen und Abbildungen
- Erstellung von Referaten (die in die weekly reports für den Datenaustausch einflossen)
- Übersetzung der von den Schülerinnen und Schülern ermittelten Daten
- Dateneingabe in den Computer
- Übersetzung der eingehenden Daten aus den USA in das Deutsche
Diese Aufgaben wurden in arbeitsteiliger Gruppenarbeit durchgeführt, wobei die Gruppengröße zwischen zwei und fünf Schülerinnen und Schülern variierte. Während des Projekts versuchte jede Gruppe bis zum jeweiligen Freitag, einen kurzen Arbeitsbericht zu erstellen, aus dem der derzeitige Stand der Teilprojekte hervorging.
Die Zwischenberichte (weekly reports) wurden in der Regel freitags als E-Mails zur Schule in Fredricksburg geschickt. Dort wurden am Wochenende alle Daten von Kirk Beckendorf gesammelt, eine Zusammenfassung erstellt und diese am darauffolgenden Montag an die teilnehmenden Schulen übersandt.
Montagmorgen war dann jede Lerngruppe über den Stand der anderen Projektgruppen informiert. Dies spornte die Schülerinnen und Schüler außerordentlich an. Die Motivation stieg, denn die Berichte ließen für die hiesigen Schülerinnen und Schüler „exotische“ Ergebnisse erwarten, war doch in den Berichten etwa die Rede von Klapperschlangen, Berglöwen und subtropischen Pflanzen.
Nachdem die experimentelle Phase beendet war, erstellte jede Gruppe – neben einem ausführlichen Referat – ein knappes Ergebnisprotokoll. Letztere galt es ins Englische zu übersetzen. Dies stellte viele Schülerinnen und Schüler vor erhebliche Probleme. Daher wurden der Erweiterungskurs Englisch der gleichen Jahrgangsstufe sowie sehr motivierte Schülerinnen und Schüler aus dem Grundkurs hinzugezogen. Die Hilfe von native speakers sowie von Lehrkräften mußte ebenfalls in Anspruch genommen werden. Die übersetzten Informationen wurden anschließend zügig eingegeben und übermittelt.
Schon ab Mitte April bis Mitte Mai wurden die ersten Abschlußberichte übermittelt. Die Länge der Berichte variierte von zwei bis zehn DIN A4-Seiten. Vielfältige Daten und Informationen der unterschiedlichen Regionen trafen ein.
Gegen Ende des Projekts überraschte die Lerngruppe aus Fredericksburg durch die Übermittlung von weiterem Auswertungsmaterial in Form von zwei riesigen Paketen. Sie enthielten wertvolles Anschauungsmaterial für den Unterricht: ein konservierter Skorpion, Probengläser mit den verschiedensten Boden- und Gewässerproben usw. Spontan und einstimmig setzten daraufhin die Schülerinnen und Schüler viel Energie ein, um ein ebenso informatives Materialpaket zusammenzustellen.
Im ersten Teil der Auswertungsphase stellte jede Gruppe den übrigen Gruppen ihre Arbeitsergebnisse vor.
In der zweiten Phase – bei der Auswertung der amerikanischen Beiträge – wurden vorrangig drei Lebensräume ausgewertet: Fredericksburg, Texas; Braintree, Massachussetts und Kirtland, Ohio.
Alle übrigen Berichte konnten nur auszugsweise besprochen werden, da jeden Montag eine Informationsflut auf alle am Projekt Beteiligten zukam. Auswahlkriterien waren der Umfang, der Schwierigkeitsgrad sowie der mögliche Einsatz im laufenden Unterricht; aber auch besonders motivierende Berichte wurden berücksichtigt.
Die Vorauswahl, die von den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern getroffen wurde, war unbedingt notwendig, da ansonsten die Übersetzungstätigkeiten und das zur Verfügung stehende Stundenpotential in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander gestanden hätten.
Die Übersetzungstätigkeit war in dieser Phase sehr viel umfangreicher und schwieriger als bei den weekly reports. Die Schülerinnen und Schüler wurden auch angehalten, Mut zu zeigen, bestimmte Bereiche lückenhaft abzuhandeln, denn selbst in dem umfangreichsten zur Verfügung stehenden Lexikon war eine Reihe von englischen Fachtermini nicht aufzufinden (botanische Bezeichnungen, chemische Termini etc.). Dennoch ergab sich ein relativ ganzheitliches Bild bezüglich des jeweilig ausgewerteten Lebensraums.
Die Daten zu den unterschiedlichen biomes wurden an einer Seitentafel übersichtlich präsentiert, wobei folgende Bereiche von besonderer Bedeutung waren: location, climate, soil, plants, animals, rocks und fossils.
Diese Begriffe wurden auf pinkfarbenen Pappkarten in englischer Sprache festgehalten. Die Daten der unterschiedlichen Lebensräume – festgehalten auf grünem Tonpapier – wurden diesen Begriffen zugeordnet.
Das Material der beiden Pakete aus Fredericksburg ermöglichte eine dritte Stufe der Auswertung. Das vorhandene Material – vor allem Boden- und Gesteinsproben – ergab die faszinierende Gelegenheit, parallel Experimente mit den texanischen Proben durchzuführen sowie übermittelte Daten mit eigenen Werten zu vergleichen (z. B. Ionen oder pH-Werte) und unbekanntes Material zu klassifizieren.
Zusammenfassung
Insgesamt gesehen hat die Teilnahme am Biome-Projekt deutlich gemacht, daß E-Mail auch für anspruchsvollere, thematisch orientierte Unterrichtsvorhaben nutzbar gemacht werden kann. Der Klassenraum wurde hier tatsächlich über einen längeren Zeitraum für ein weltweites Projekt geöffnet. Naturwissenschaftliche Lerngruppen, die z. T. viele tausend Kilometer voneinander entfernt waren und andernfalls nie Kontakt miteinander aufgenommen hätten, waren durch das Medium der Telekommunikation in der Lage, eng miteinander zusammenzuarbeiten. Sie führten – oft außerhalb des Klassenraums – Untersuchungen durch, werteten diese aus und stellten sie den beteiligten Gruppen zur Verfügung. Dadurch konnten die Ergebnisse in den eigenen Unterricht einbezogen werden. Das ergab vielfach auch die faszinierende Möglichkeit, die erhaltenen Ergebnisse mit den eigenen zu vergleichen.
Fächerübergreifende Ansätze des Biome-Projekts oder ähnlicher Projekte können die Schulen vor erhebliche Schwierigkeiten stellen, da zumeist die naturwissenschaftlichen Fächer getrennt unterrichtet werden; gefordert war hier aber ein fächerübergreifender Zugriff. Viele Fragestellungen und Untersuchungen können nicht auf ein Fach verengt werden, vielmehr ist ein integrativer Ansatz notwendig. Eine Möglichkeit besteht darin, die Unterrichtsfächer nach Bedarf zu kombinieren. So wird etwa aus einer Biologiestunde eine Art Biochemiestunde mit Englischunterricht, oder es tritt für einen bestimmten Zeitraum ein Fach wie Fossilienkunde hinzu. Der starre Stundenplan ist ein ungünstiger Faktor, wenn Projektarbeiten nach einer Stunde abgebrochen werden müssen, wo zwei oder drei sinnvoll wären.
Eine die Telekommunikation integrierende curriculare Planung kann sich als sehr schwierig erweisen, wenn nicht gar unmöglich sein, da für die Schule bei der Erstellung der schulinternen Lehrpläne nicht absehbar ist, ob und wenn ja, welche Projekte zu bestimmten Fächern angeboten oder selbst initiiert werden. Es bleibt aber zu prüfen, ob nicht doch schulintern eine gewisse Verbindlichkeit für solche Projekte vereinbart werden sollte. Diese sollten aber nicht auf E-Mail beschränkt werden, vielmehr für bestimmte Jahrgänge als Vorhaben im Rahmen des grenzüberschreitenden Lernens in unterschiedlichen Formen festgelegt werden.
Die Erfahrungen des Biome-Projekts zeigten weiterhin, daß sehr schnell riesige Datenmengen auflaufen, die gesichtet und ausgewertet werden müssen. Es wäre allerdings zu prüfen, ob in Projekten die Lehrerinnen und Lehrer eine Entlastung erfahren und die Schülerinnen und Schüler eine wichtige Rolle bei der Materialauswahl übernehmen könnten.
Oft entziehen sich Telekommunikationsprojekte einer präzisen Planung auch aufgrund von kaum zu beeinflussenden Faktoren wie schulfreien Terminen, Krankheiten oder Unzuverlässigkeiten von am Vorhaben Beteiligten. Es ist dann oft schwer, die eigenen Schülerinnen und Schüler nicht zu frustrieren, wenn Antworten auf ihre Beiträge ausbleiben.
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