Volker Hansen, in: Praxis Schule 5-10. Heft 4 – August 2000. Westermann-Verlag, S. 18-21
Die Schulprogrammentwicklung hat manche Schulen vor ein unerwartetes Problem gestellt: Die Vielfalt der pädagogischen Aktivitäten erschwert eine Kanalisierung und Profilierung des Programms. Am Entwicklungsprozess einer nordrhein-westfälischen Gesamtschule werden einige Strategien zur Bündelung der Diskussion vorgestellt.
Schule im Fokus der Öffentlichkeit
Schulen stehen in einer demokratischen Gesellschaft im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Vielerlei Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen werden an sie geknüpft und in Form von mehr oder weniger expliziten Forderungen aus Politik, Wirtschaft und Interessenverbänden oft tagesaktuell an Schule herangetragen.
Schule soll Wissen und Schlüsselqualifikationen vermitteln, soziale Verantwortung stärken, wirksame Gewaltprophylaxe leisten, zu Sauberkeit und Ordnung erziehen, Sexualaufklärung leisten, Grundlagen für politische Mündigkeit schaffen, durch geeignete Verkehrserziehung der Gefährdung im Straßenverkehr entgegenwirken, die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft durch Computer- und Internetschulung unterstützen, … Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Daneben ist Schule aber auch eingebunden in ein Geflecht von schriftlich fixierten Rahmenbedingungen wie Gesetzen, Erlassen und Verfügungen, die inhaltliche und organisatorische Festlegungen bestimmen und zu „zweckrationaler Ausrichtung des Verwaltungshandelns‘1 verpflichten. Dieses zum Teil schwer zu durchschauende Geflecht wird zudem abgesichert durch hierarchische Strukturen, die die Einhaltung des Rahmens sicherstellen sollen. Zu Schule gehört aber innerhalb ihrer Mitbestimmungsorgane auch ein demokratischer Freiraum, der die Beteiligung der in ihr Wirkenden ermöglicht und ihnen eine Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten einräumt.
Beides, vorgegebener Rahmen und demokratischer Freiraum, sind Last und Chance. Systeme müssen sichern und konsolidieren, sie müssen aber auch auf die sich ständig ändernde Gesellschaft um sie herum reagieren, Impulse aufnehmen und in pädagogischer Verantwortung weiterentwickeln. Insofern muss Schule innerhalb des gesetzten Rahmens viel Kraft aufbringen um abzusichern und Innovationen voranzutreiben. Die Publikation der Bildungskommission NRW „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft?“2 hat sich 1995 pointiert für eine Stärkung der Selbstständigkeit von Schulen sowie die Entwicklung von Schulprogrammen ausgesprochen. Dieser Ansatz ist politisch aufgenommen und den Schulen als Aufgabe übertragen, wenn auch in der Folgezeit wieder stetig geschmälert worden. Dennoch: Entwicklungsspielraum ist geblieben und die Schulen haben ihn bislang unterschiedlich genutzt.
Schule – ein Feld der Möglichkeiten
Die Entwicklungsmöglichkeiten wurden vielerorts als Gelegenheit und Bürde gleichermaßen aufgefasst. Der hohe Praxisdruck sowie vermehrte Verwaltungstätigkeiten förderten nicht unbedingt die Innovationsfreudigkeit von Kollegien, sodass Schulprogrammentwicklung in manchen Systemen lediglich als formal zu erledigende Aufgabe angesehen wurde.
Ließen sich Schulen aber ernsthaft auf den Prozess ein, so ergab sich sehr schnell schon bei der Bestandsaufnahme, welche vielfältigen Aufgaben vor ihnen lagen. Die einzelne Schule stellte sich als Schule der Möglichkeiten heraus, und es erwies sich oft als schwierig, hier im Konsens der Schulgemeinde zu Schärfungen zu kommen. Schulen, die seit jeher deutliche Profile – etwa eine altsprachliche Ausrichtung – besaßen, hatten es da leichter, denn sie bestätigten entweder nur das Profil oder nahmen lediglich geringfügige Anpassungen vor.
Systeme mit breiter angelegter Schülerpopulation, wie sie etwa Gesamtschulen darstellen, standen vor einem breiten Spektrum pädagogischer Aktivitäten, die in ihnen entstanden und weiterentwickelt worden waren, sodass Festlegungen schwer fielen, denn sie bedeuteten ja eine Rückstufung und Einengung zugunsten von wenigen Schwerpunkten. Bot man im Schulprogramm aber alles an, was in der jeweiligen Schule en vogue war, und vermied Festlegungen, stand man in der Gefahr der Unverbindlichkeit: Das eigene Profil wurde nach innen und außen nicht erkennbar.
Im Folgenden werden Entwicklungselemente einer großen Gesamtschule skizziert, in der versucht wurde, die Möglichkeiten pädagogischer Weiterentwicklung zu kanalisieren, auf der Grundlage von Kursentscheidungen zu konkreten Umsetzungen zu gelangen und somit Veränderungen an Profil und Handeln vorzunehmen.
Auf der Suche nach einem pädagogischen Profil
Schon 1992 entstand in dieser Schule ein „Arbeitskreis Profil“, der etwa ein Drittel des Kollegiums umfasste und sich einmal monatlich abends traf, um das pädagogische Profil der Schule zu diskutieren und es dann später über die Mitwirkungsgremien festzuschreiben. Die Arbeit umfasste zunächst eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Situation der Schule sowie der in ihr arbeitenden Gruppen Schülerschaft, Schulleitung, Kollegium und Elternschaft. Die Befunde wurden von Untergruppen des „Arbeitskreises Profil“ geleistet und dann im Plenum diskutiert. Dieser Prozess zog sich über etwa vier Jahre und führte zu einer Reihe von Konzepten für die mögliche Ausrichtung der Schule. So entstanden u. a. Papiere zu einer UNESCO- Projektschule, ein 12- Punkte-Programm für eine Europa-Gesamtschule, ein pädagogisches Profil mit Behinderten und der Entwurf einer multikulturellen Schule.
In der Folgezeit ließ das Interesse der Schule an der Konzeptbildung nach, gefordert wurde von vielen Beteiligten eine schnellere Konsensbildung sowie eine abschließende Entscheidung über das pädagogische Profil der Schule, doch die kontroverse Diskussion ließ einen Konsens noch nicht zu. Eine schulinterne eineinhalbtägige Fortbildung zum Thema .Profilblldung“ zeigte dann 1996 noch einmal die vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten, die von Teilgruppierungen des Kollegiums angestrebt wurden und die sich an den elf Themen der Arbeitsgruppen ablesen ließen: Außendarstellung, Gründung einer eigenen Oberstufe, Förderkonzept, Ganztagskonzept, grenzüberschreitendes Lernen, Schulordnung, Schulberatung, Kooperation mit Grundschulen, Gestaltung des Schulgebäudes, fachunabhängiger Ausgleichsunterricht, Präsenz der Naturwissenschaften. Daneben gab es noch Bestrebungen, die Bereiche Kunst, Musik, Darstellung und Gestalten sowie auch Sport und Technik zu stärken. Entscheidungen wurden allerdings nicht getroffen. „Villa Kunterbunt im universitären Rahmen“, befand eine große Lokalzeitung zum damaligen Zeitpunkt über die Schule.
In dieser Situation entstand die Forderung, externe Moderatoren aus der Wirtschaft in den Schulentwicklungsprozess einzubeziehen, um unter professioneller Anleitung zu einer Entscheidung zu kommen. Weiterhin wurde eine Steuergruppe per Wahlentscheid eingerichtet, um die vielfältigen Diskussionsstränge zu koordinieren.
Strukturierungsinstrumente
Für den Entscheidungsprozess in dieser noch sehr offenen Phase erschien es wichtig, Instrumente bereitzustellen, die eine noch stärkere Strukturierung der Diskussion ermöglichten, um so mit dem Gros der Beteiligten zu einem Konsens zu gelangen und diesen dann auch konsequent umzusetzen. Daher wurde der Prozess mit Elementen des Projektmanagements abgeglichen. Es galt, die Aufgabenstellung eindeutig zu formulieren, Verantwortung und Zielsetzung für ein Gesamtergebnis festzulegen, klare zeitliche Strukturen einzuziehen, Teilaufgaben zu definieren sowie die Gesamtorganisation abzustimmen.3 Von der Schulleitung wurden im Einvernehmen mit der Steuergruppe entsprechende Setzungen vorgenommen:
- Die Arbeit der Steuergruppe wurde durch die Einrichtung von so genannten Jahrgangsteams (die Klassenleitungen eines Jahrgangs) abgelöst. Diese trafen sich einmal im Monat zur Weiterentwicklung des Schulprogramms sowie zur Beratung pädagogischer Probleme des Jahrgangs.
- Die Jahrgangsteams wählten Sprecher, die wiederum ein Sprecherteam bildeten, um vertikale Kommunikation sicherzustellen und sich mit der Schulleitung über die Arbeitsergebnisse auszutauschen.
- Es erfolgte eine Reduzierung der Lehrerkonferenzen, um die Diskussion in die Teams zu verlagern.
- Von der Schulleitung wurde ein ganzjähriger Schulkalender zusammengestellt, der die Gremienarbeit koordinierte und Zeit für die Entwicklungsarbeit zur Verfügung stellte. So wurden für die Teams feste Zeiten geblockt.
- Gleichzeitig wurden Arbeitsentlastungen abgesichert: Jedes Kollegiumsmitglied war zum Beispiel nur noch Mitglied einer Fachkonferenz.
- Es wurden zudem Arbeitsgruppen gebildet, die Teilaspekte des Schulprogramms weiterentwickelten, etwa Soziales Curriculum, Programme für Migrantenkinder, Förderprogramm Sek. I oder Internetprojekte (vgl. dazu auch die Materialseite). Längst nicht alle Aspekte aber wurden abgedeckt; zu groß war das thematische Spektrum. Die Arbeitskreise wurden aus dem Zeitbudget-Deputat entlastet, Tagungsmöglichkeiten wurden durch Blockungen abgesichert.
- Ein Redaktionsausschuss übernahm die Koordination, Verschriftlichung und Kürzung der bisher erarbeiteten Konzepte.
Umsetzungsstrategien
Der Einsatz dieser Instrumente führte zu einer erneuten Intensivierung der Arbeit an den pädagogischen Zielen. Als sehr fruchtbar erwies sich die Einrichtung der Jahrgangsteams, da ihre Mitglieder eine ähnliche Interessenlage hatten, die Gruppengröße bei maximal 18 Personen lag und so viel mehr Beiträge unterschiedlicher Redner ermöglicht wurden als innerhalb der eher schwerfälligen Lehrerkonferenzen. Durch die schriftliche Fixierung eines Schulprogrammtextes seitens des Redaktionsausschusses fand zudem eine Verengung der Themenbreite statt.
Dennoch konnte noch nicht von einer echten Eingrenzung gesprochen werden. Die zahlreichen Protokolle der monatlich tagenden Jahrgangsteams führten vielmehr wieder zu einer Verbreiterung der Textbasis des Schulprogrammentwurfs. Dies wurde noch verstärkt durch die Einrichtung eines Elternarbeitskreises, der ebenfalls Impulse für das Schulprogramm einbrachte. Kollegium und Schulleitung gelangten angesichts dieser Schwierigkeiten zu der Entscheidung, die Konsensbildung über eine externe Moderation voranzutreiben. Eine Präzisierung und Eingrenzung des Schulprogramms erschien nur möglich, wenn vorher eine Einigung über wenige grundlegende pädagogische Leitziele erreicht worden war. Gewünscht wurde zudem mehrheitlich eine Tagungsleitung, die nicht im schulischen Bereich arbeitete. Die Schulleitung beauftragte daher zwei Moderatorinnen, die sich auf systemische Fortbildungen für Betriebe und Großgruppen spezialisiert hatten.
So fand eine eintägige schulinterne Fortbildung statt, die zum Ziel hatte, aus der bisher geführten langjährigen Diskussion die drei wichtigsten Leitziele der Schule herauszufiltern. Dazu wurde von denbei den Moderatorinnen eine anonyme Vorabfrage durchgeführt, in der drei pädagogische Ziele für die Schule zu nennen waren, die in den nächsten drei Jahren umgesetzt werden sollten. Auf der Basis der vorgeschlagenen Themen wurden nach dem Zufallsprinzip zwölf Arbeitsgruppen gebildet, die ihre jeweiligen Bereiche dann ausarbeiteten und dem Plenum später in einer Marktplatzsituation vorstellten. Anschließend wurde mittels eines Punkteverfahrens abgestimmt, woraus sich folgende Leitziele ergaben:
- Schülerinnen und Schülern Vorbild werden, Vorbild sein;
- soziale Verantwortung stärken;
- Lernen lernen.
Auf dieser Basis erhielt das Redaktionsteam die Aufgabe, den bisherigen Schulprogrammentwurf hinsichtlich der Leitziele zu kürzen. Diese Fassung wurde noch einmal von allen Mitwirkungsgremien diskutiert; deren Vorschläge gingen an den Redaktionsausschuss zurück, der eine erneute Überarbeitung vornahm. Um den Text lesbar zu gestalten, wurden eine Langfassung als schulinternes Handlungskonzept und eine Kurzfassung für die Außenkontakte erstellt.
Probleme und Perspektiven
Die Entscheidung über die Leitziele am Fortbildungstag führte im Nachhinein zu einer Kontroverse in Bezug auf das Leitziel 1: Aufgrund einer bei der Abstimmung nicht präzisen Moderation wollte ein Teil des Kollegiums hier die Vorbildfunktion als einen Leistungsanspruch an die zu Erziehenden verstanden wissen, einem anderen Teil ging es mehr um die Vorbild-Notwendigkeit von Schüler- und Lehrerschaft. Dennoch ergab sich nach der Festlegung der drei Leitziele eine Verengung des Schulprogramms. Als Leitziele, die in der Folge nun stärker die schulinterne Lehrplanentwicklung, Fortbildungsveranstaltungen und Finanzmittel bestimmten, etablierten sich zunehmend die Schwerpunkte Leistungsförderung, Stärkung der sozialen Verantwortung sowie modernes Lernen.
An dieser Stelle ist erst eine vorsichtige Zwischenbilanz möglich. Insgesamt zeigt sich, dass ein Diskussions- und Entscheidungsprozess auch in großen Schulsystemen möglich ist – immerhin umfasste die potenzielle Zahl der Beteiligten mehr als 1200 Jugendliche, deren Erziehungsberechtigte sowie ein fast hundertköpfiges Kollegium. Das implizierte eine große Bandbreite der Zielvorstellungen, sei es zur Ganztagsgestaltung, zum Ordnungsrahmen, zur Einführung neuer Technologien, zum Verhaltenskodex oder zu Leistungsanforderungen – und das, obwohl sich nur ein Teil in den Entwicklungsprozess einbrachte. „Schulen ändern sich, unabhängig, ob dies von ihren Mitgliedern bewusst angestrebt, scheinbar unbeteiligt zur Kenntnis genommen oder gar gegen ihren Willen erlitten wird“4, denn sie sind Teil einer sich stetig verändernden Gesellschaft.
Die Entwicklung von einer Schule der Möglichkeiten zu Anfängen einer Umsetzungsschule ist ein außerordentlich komplexer Prozess, der zwar durchaus geradlinige Phasen hat, sich daneben aber auch sprunghaft und unerwartet vollziehen sowie über einen sehr langen Zeitraum erstrecken kann. Dann bedarf es der Intervention, entweder seitens schulinterner Kräfte oder seitens externer Fachleute – eine Erfolgsgarantie verbindet sich damit allerdings auch nicht.
1 Rolff, H.-G.: Schule als soziale Organisation. Von der aktuellen Gestalt der Schule zum Modell der professionellen Vertrauensorganisation. In: Buchen, H. u. a. (Hrsg.): Schulleitung und Schulentwicklung. Stuttgart 1995, S. 29.
2 Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft: Denkschrift der Kommission Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft beim Ministerpräsidenten des Landes NordrheinWestfalen / Bildungskommission NRW. Neuwied, Kriftel, Berlin 1995.
3 Vgl. etwa Haynes, M. E.: Project management. Menlo Park 1989.
4 Horster, L.. Wie Schulen sich entwickeln können. Schulentwicklung und Schulmanagement. Bd. 1. Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Soest 1995, S. 12.
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